Hallo zusammen,
die Formulierung "mit überwiegend christlichem Glauben" würde ich gern durch "überwiegend säkularisierte Länder" ersetzt wissen. Wir leben heute in einer Zeit und (westlichen) Welt, wo viele der früher anerkannten rigiden "Werte" relativiert sind. Als Evangelisch-Lutherischer Kirchenvorsteher sehe ich das immer mit einem lachenden und einem weinenden Auge.
Mit dem lachenden Auge immer dann, wenn überkommene oder historisch fragwürdige religiöse Vorschriften gebrochen werden, und das oftmals in kollektivem "zivilen Ungehorsam". Als prägnantestes Beispiel dazu fällt mir ein, dass hier in Bayern -- wo die meisten noch immer glauben, das sei soooo erzkonservativ -- ganze katholische Gemeinden dichthalten, wenn der Herr Pfarrer Kinder hat. Und das niemand sich darüber aufregt, wenn ein katholischer Pfarrer schwul ist und einen gleichaltrigen Lebensgefährten hat -- denn beides bedeutet schließlich, dass Hochwürden die Ministranten in Ruhe lässt. Und beides kenne ich mehrfach "live".
Mit einem weinenden Auge kann man natürlich auch beobachten, dass Weihnachten ein "Tannenbaumfest" geworden ist, Ostern ein "Eiersuchfest" und Pfingsten ein langes Wochenende.
Hingegen haben nicht nur "wir Christen" im Alten Testament (zweites, drittes Buch Mose) eine lange Latte an Reinlichkeitsvorschriften (gehabt), die nicht nur den Gottesdienstbesuch verbieten, wenn eine Frau ihre "Tage" hat. Nach diesen Vorschriften bin ich nicht nur "unrein", wenn mein Augenlicht versagt (und das bei meiner mittleren Kurzsichtigkeit!), sogar das Tragen von Gewändern aus verschiedenen Stoffen macht unrein -- schöne Grüße an die Textilindustrie mit ihren "Mischgeweben" ;-)
Ein sehr großes Problem bezüglich Inkontinenzerkrankungen wird sich vor allem dann einstellen, wenn die jeweiligen Betroffenen die in ihrer persönlich gelebten Form von Glauben gewählten Ansichten zum Thema "Unreinheit" nicht (mehr) erfüllen. Es macht da zum Beispiel einen Unterschied, ob jemand "nur Bettnässer" ist (morgens duschen ist einfach), oder ob jemand mit einer mehr oder minder nassen Windel in einer Moschee oder Synagoge sitzt. Und wie er (oder sie) das wahrnimmt, ob als rein gesundheitliches Problem oder als Unreinheit vor seinem / ihrem Gott.
Was den Bereich Ärzte und Therapie angeht, gibt es auch geschlechtsspezifische Unterschiede. Die Faustregel lautet immer (so sagte man mir im obligatorischen Multi-Kulti-Seminar während der Lehrerausbildung), sensible Erkrankungen nur von Ärzt/innen behandeln zu lassen, die den betreffenden Körperteil auch im "richtigen Leben" sehen dürfen. Das heißt im Klartext, dass eine Istanbuler Türkin einer "aufgeklärten" Richtung des Islam selbstverständlich mit einem gebrochen Arm von einem Mann behandelt werden darf, während eine Talibana nicht mal einen gebrochenen Finger einem Mann zeigen darf.
Die meisten Großstadt-Krankenhäuser verfügen inzwischen über genügend Fingerspitzengefühl, dass sie sogar unverschleierte Türkinnen außer in Notfällen wie Verkehrsunfällen nur von Frauen behandeln lassen, die Männer nur von Männern. In der Fläche sieht das leider manchmal anders aus und kann im Extremfall dazu führen, dass Erkrankungen unbehandelt bleiben.
Was den ambulanten Bereich angeht, kann man sich den Arzt ja meistens aussuchen. Insbesondere was Muslimas angeht, sind die meist sehr offen, wenn sie einer Ärztin gegenüberstehen. Die der ersten Generation kennen ja noch die "weisen Frauen" aus ihrem Heimatland. Und viele muslimische Männer würden nie zu einer Ärztin gehen, aber das lässt sich meist problemlos vermeiden.
Die nächste Hürde ist übrigens die Apotheke. Viele Großstadt-Apotheken sind inzwischen sensibel genug, ihre Kunden nach Kulturkreisen zu zu differenzieren. Hier in Nürnberg, zum Beispiel, ist die GIH-empfohlene Glockenhof-Apotheke ( http://www.glockenhof-apotheke.de ) nicht nur personal-sensibel, sondern bietet auch ihre Dienste in Griechisch und Türkisch an. Apropos, orthodoxe griechische Christ/innen (eben noch nicht so säkularisiert) können ähnliche Probleme haben wie streng-katholische Spanier/innen -- das Mann-Frau-Thema ist eben weniger enttabuisiert. Und mal ganz ehrlich, auch ich selber lass mir lieber von einem sechzigjährigen Apotheker Hilfsmittel verkaufen als von einer grade ausgelernten PTA. Bei mir ist das allerdings eine Frage von "lieber", ich mach nicht auf dem Absatz kehrt und probier's morgen wieder ...
Am besten, Kat, wär's glaub ich, wenn du zu dem Thema auch mal eine örtliche Vereinigung von Muslimas befragst (oder in der nächsten Großstadt) -- schließlich sind das in unserer "westlichen Welt" die wahren Expertinnen für tiefer gehende Fragen, insbesondere was die verschiedenen Richtungen des Islam angeht ...
Andreas