Hallo Jürgen (und alle Mitleser),
wenn du den Link zu meinem Namen anklickst, kommt das Ergebnis der Suchmaschine der Gedenkstätte Yad Vashem zu den verschiedenen Schreibweisen. Die erste Seite zeigt die Treffer 1 bis 15 von 1000, es werden nur die ersten 1000 Treffer aus der Datenbank angezeigt.
Zu jedem der aufgezeigten Leute gibt es unterschiedliche Informationen: Wohnort, Geburtsjahr, Quelle der Information, etc. Wenn du auf den jeweiligen Namen klickst, kannst du einen kurzen Abriss des Lebenslaufs des Mannes oder der Frau lesen, und wo er oder sie gestorben ist -- in welchem Ghetto, in welchem KZ, usw. Meist ist noch ein Bild von einem Dokument dabei, meist ein Auszug einer KZ-Todesliste (die Nazis waren gute Bürokraten), einer Deportationsliste oder ein Zettel einer Art "Gedächtnisprotokoll", von einem überlebenden Zeitzeugen gefertigt. Besonders für Verwandte, denen die Flucht gelungen ist, sind solche Gedächtnisprotokolle oft das einzige, was sie noch haben.
Mich hat damals im grauen November 2003 die Fülle der Namen und der Schicksale erschlagen. Ich wusste zwar, dass mein Name in Berlin verschwunden war, aber ich hatte mir darüber nur wenig Gedanken gemacht. Ein kurzer bericht auf meiner Lieblingsseite
http://www.n-tv.de, ein kurzer Klick, gib mal eben neugierig deinen Namen ein, und viele Sachen begannen, Sinn zu ergeben. Obwohl's mich bei den ersten Klicks zu grausen begann, konnte ich nicht wieder weg.
Auf einmal wurden vor meinen Augen aus den üblichen Zahlenspielereien Individuen, die einen Geburtstag, einen Geburtsort, ein Leben und ein gewaltsames Lebensende hatten, und sie trugen meinen Namen. Das Grauen aus den Filmen gewann erstmals für mich persönlich Gestalt anzunehmen. Am nächsten Tag haben Kollegen gefragt, warum ich so seltsam anders war.
Schlagartig wurden ein paar Details aus der Familiengeschichte klar: Warum der erste Ariernachweis problemlos durchging, es aber 1938 Probleme gab, weil mein Großonkel zur Förderung seines Krämerladens in "die Partei" eintreten wollte. Hilfreich war meiner aus Hamburg angereisten Großtante Emmi ein katholischer Dorfpfarrer aus der Gegend von Lemberg: Der verfasste ein Dokument, dass die evangelische Kirche mit sämtlichen Kirchenbüchern im Ersten Weltkrieg abgebrannt war, deswegen ein weiterer Ariernachweis unmöglich wäre. Und die Nazis haben diese Dämlichkeit auch noch geglaubt: Es gab im 19. Jahrhundert in der Gegend nur Katholiken, Orthodoxe und Juden, aber niemand war in dieser Ecke des damals österreichischen Galiziens evangelisch. Problemlos konnte also Kurt Spector mit seinem ukrainisch-jüdischen Familiennamen Mitglied der NSDAP werden, nur um -- das ist die der beste Witz an der Geschichte -- kurz danach seine Tochter nach einer Urgroßtante auf den beliebten jüdischen Namen
Esther taufen zu lassen.
Wie es das Leben so will, mit all seinen Zufällen, bin ich einer der wenigen Nachkommen der Überlebenden in Kontinental-Europa mit diesem schönen "lateinischen" Namen. Und weil es die Familie für überlebenswichtig hielt, zu schweigen, wissen alle 2006 Lebenden wenig mehr als ihr jetzt.
Du musst dir mal vorstellen, Jürgen, mein Großvater hat bis zu seinem Tod 1986 Angst gehabt, darüber zu reden, denn wer weiß, ob die Nazis mal wieder an die Macht kommen. Das mag uns heute absurd erscheinen, aber so tief waren die Ängste ... Ich mag gar nicht drüber nachdenken ...
Elisabeth, das wirksamste Mittel gegen Verfolgung war tatsächlich mehrfaches Umziehen in Verbindung mit Vernichtung von Dokumenten, wenn man nicht ins Ausland konnte. Eine kurze energische Vorspache bei einem Dorfbürgermeister, man sei ausgebombt in der Großstadt wirkte Wunder und erbrachte einen neuen Ausweis. Danach Untertauchen in einer entfernten Großstadt -- bloß damals gab's kein Internet, um sowas zu verbreiten ... Ich stell mir übrigens das Massaker an den Armeniern ähnlich vor -- absolut kein Entrinnen dank der freundlichen Nachbarn! -- nur weiß ich wenig mehr, als dass rund ums Schwarze Meer noch heute ein paar hundettausend Armenier leben und ihre Kirchen haben. Übrigens hat mich der zweiteilige Fernsehfilm über die britischen Soldaten in Bosnien, wo sie die "ethnischen Säuberungen" im Detail zeigen, letztes Jahr mehr bewegt als wo ich ihn zum ersten Mal gesehen hab:
http://www.dvdboard.de/forum/showthread.php?t=49768. Ich glaub, da hab ich zum ersten Mal verstanden, was es bedeutet, wenn Leute aus (dem damals serbischen Miniatur-) Rassismus heraus andere Leute umbringen ... Und weil die mir vertraute hügelige Balkan-Landschaft immer sehr ähnlich aussieht, denke ich oft dran ...
Na klar,
Eckhard, du siehst, dass du nichts siehst ... Ich such immer mal wieder nach Namen ... Sogar mit meinem Gerhard seinem sorbisch-tschechischem Namen findest du nichts ... Da kann ich nur sagen: Schwein gehabt! Du musst dich nicht einmal um den Verbleib einer einzigen nicht existierenden angeheirateten halbjüdischen Ex-Großtante sorgen!
Andreas